عاشق…

Als ich aus dem Fahrstuhl trat, hatte sie die klemmende Wohnungstür einen Spalt geöffnet; ich trat ein, sie flog mir auf dem kurzen Flur etwas zu freudig entgegen, dafür, dass wir nur Kollegen von zwei verschiedenen Unternehmen waren, die wir hier wöchentlich in dieser uns fremden Bude durch reine Zufälle und Notfälle stundenweise gemeinsam unsere Arbeitszeit zu verbringen hatten. Es roch nach Katzenpisse und Desinfektionsmittel, und etwas Zitrusreiniger lag auch noch in der Luft.

Draußen in der Stadt herrschte herbstlicher Winter bei drei Grad, hier drinnen mussten es mindestens sechsundzwanzig sein; die Augen traten einem aus, wenn man herein kam. Ich zog Jacke und Schuhe aus, öffnete meine Fleecejacke etwas und ging hinter ihr in die Küche. „Ich mache uns gerade Mokka“, sagte sie in ihren süßen Akzent und mit einem offenen Lächeln, das ihre schönen Zähne zeigte; unsere Blicke verhakten sich auf halber Distanz ein paar Millisekunden zu lang, und während sie das feine Pulver in die Mokkakanne löffelte, fielen breite Strähnen ihrer schwarzen Haare in ihr Profil: ich musste meinen Blick abwenden von soviel Schönheit, auf den versifften Toaster, die vergilbten Schneidbrettchen, die an der Wand hingen, auf die sich vor Fett kräuselnde Postkarte über dem Herd… – und hinunter auf ihre dünnen, zierlichen Finger, die die Kanne schwenkten, den Löffel hielten, den Zucker einrührten. Ihre schmalen braunen Unterarme waren nackt, am linken Handgelenk wackelte rhythmisch ein Karneolarmband.
Sie trug ihre weiße, ärmellose Kittelschürze mit dem Logo ihrer Firma, ich hingegen war wie immer „in Zivil“ da, das war unser kleiner running gag beim letzten Mal: Man würde sehen, wer von uns beiden studiert habe und wer „nur“ eine Ausbildung gemacht hatte: das war ihr Satz gewesen, mit dem sie mich aufzog. Neulich aber hatten wir uns wenig über unsere eigentliche Arbeit ausgetauscht, sondern uns binnen einer Viertelstunde von „unseren Ländern“ erzählt, sie vom Iran und der Türkei, ich von Indien und Indien. Wir redeten uns in freudige Rage, als es mit einem Mal um unsere Sehnsuchtsstadt in Europa, Lissabon, ging, die wir beide noch nie besucht hatten und die wir uns beide aufzuheben schienen für den richtigen Moment, das richtige Jahr, die richtige Zeit in unserer beider Leben: schwärmerisch-sentimental, romantisch, kindlich.
Sie war flink und wach, sie quietschte vor Begeisterung, als es ein ums andere Mal ums Reisen ging, und dann rief sie sich selbst augenblicklich zur Mäßigung, um einen schicklicheren Eindruck zu machen. Dabei hatte sie zuerst bemerkt, dass ich rote Ohren bekommen hatte, und so musste sie mir auch ihre zeigen – : klein und zierlich und schön geformt wie alles an ihr, waren sie unter den dicken Schichten ihrer Haare vergraben, und im Nu errötete sie auch auf den Wangen und am Brustbein. Sie hatte Augen in denen ich mich verlor, ich fand den Ausgang aus ihnen nicht, dabei war ich ansonsten noch nie gut darin gewesen, Blickkontakt zu halten. Ihre Augenbrauen wären von den berühmten Dichtern ihres Landes als zarte, dunkle Mondsicheln besungen worden, und auch über ihre schmalen Schultern und Füße wären indo-persische Wortmetze ins Schwärmen geraten.
Sie wollte schon ihr halbes Leben nach Indien reisen, und ich wollte mein halbes Leben lang schon immer in den Iran, und keiner von uns beiden drückte neulich auf den Fast-Forward-Knopf zur Beschleunigung weiterer vertrauensbildender Maßnahmen, aber da standen wir ja auch erst ganz am Anfang. Seitdem hatten wir uns wöchentlich zweimal gesehen und uns lästigerweise auch mit Arbeit von einander ablenken müssen, wobei wir zunehmend Vorwände suchten, um miteinander das Gespräch wieder aufnehmen zu können.

Der Mokka war jetzt fertig, ich lehnte mich gegen die Arbeitsplatte, sie sich über Eck ans Fensterbrett; draußen nieselte es ununterbrochen, drinnen sendeten wir uns mit den kleinen dampfenden Kaffeetässchen süßlich-herbe Rauchzeichen der eindeutigen Zuneigung. Überhaupt standen wir schon bedenklich nahe beieinander, ja, jeder mit Blindheit geschlagene Anfänger in Sachen Körpersprache konnte an uns lesen, dass hier zwei Menschen nicht wirklich Lust hatten, sich noch an ihre eigentliche Arbeit zu machen. Als ich mich nach rechts zu ihrem Fenster hin drehte, um auf einen lustigen Hund da unten hinzuweisen, berührte mein linker Handrücken kurz ihren rechten, wir zuckten beide zurück, blieben aber, ohne einen Schritt auseinander zu gehen, dort an der Scheibe stehen, kaum ein Finger passte noch zwischen unsere Schultern; Oh Khuda! was waren wir scheu. Was war ich scheu.

Und nachdem sie den Kopf zuerst gesenkt hatte und mich so von unten her nach oben ansah, ganz fest, ganz verliebt, so als prüfe sie sich und mich ein letztes Mal, da drehten wir uns endlich beide zu einander hin, konnten jetzt endgültig schon die Körperwärme des anderen spüren, und die Wellen unserer schneller schlagenden Herzen; wir fassten uns fest bei den Händen, sie stellte sich auf die Zehenspitzen, ich neigte mich ihr entgegen, unsere Lippen stießen endlich sachte, aber bestimmt aneinander, ineinander, aufeinander, Wärme vermischte sich mit Wärme, wir schmeckten nach Mokka, unsere Augen fragten sich aus, schlossen sich, öffneten sich, wir mussten beide kurz vor Erleichterung auflachen, ausatmen, dann kamen wir sofort wieder zusammen, diesmal mit mehr Schwung, mir pfiff es in den Ohren, sie legte ihre zarten, feuchten Finger auf meiner linken Wange ab, ich schob meine Finger durch das Dickicht ihrer nachtschwarzen Haare an ihrem kleinen Hinterkopf, und mir war vor Freude und Erleichterung nach Schreien und Weinen zugleich, und ich konnte beides nicht, sondern atmete sie ein wie sie mich einatmete; wir fielen nicht über einander her wie im Film, wir standen eng beisammen und wurden miteinander vertraut wie zwei Nachtigallen, die sich in Rumis Palastgarten gefunden hatten…

Wie und ob es mit uns weiterging, steht vielleicht oder vielleicht nicht in papiernen Tagebuchseiten, denn wie in den Märchen des Orients hat sich diese Szene so oder anders oder vielleicht auch gar nicht so zugetragen...

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