🇮🇳 20 Jahre Indien-Fieber (14.9.2003 – 14.9.2023)

Nach Abitur (2002) und Zivildienst (2003) wollte ich einmal raus aus Europa und eintauchen in einen anderen Kontinent. Ich hatte zuerst für längere Zeit Australien im Kopf, doch als ich die Flugpreise sah und mir zudem gewahr wurde, dass mich auch dort, grob gesagt, „westliche“ Kultur erwarten würde, schwang ich kurzentschlossen auf Indien um, denn die Flüge kosteten nur halb so viel, und es war zudem etwas „näher dran“ an Europa. Ich hatte sodann ein Visum beantragt und mir nur die Hinweise zu Geschichte und Kultur sowie zu den Landessitten in meinem Reise-Know-How-Führer durchgelesen, und war somit im Prinzip eher schlecht als recht auf Indien vorbereitet.

Nicht ahnen konnte ich zu diesem Zeitpunkt, dass diese Reise zu den zwei einschneidensten Ereignissen meines Lebens zählen würde ( — das andere ist die Geburt meiner Tochter — ): Seit 2003 also beschäftige ich mich ungelogen täglich in irgendeiner Form mit Indien bzw. dem Subkontinent; seit 2004 und bis 2010 studierte ich „mit heißem Bemüh’n“ die drei Fächer Indische Philologie, Indische Kunstgeschichte und Geschichten und Kulturen Südasiens, kurz: Indologie und Südasienwissenschaften; seit 2016 liegt die Dissertation in der Schublade.

Diese erste Reise war, und das erzähle ich immer wieder, kein Selbstfindungstrip, keine Seelsuche, kein Bedürfnis nach „Heimkehr“ — nein, es war die naive Neugier eines Zwanzigjährigen aus Berlin-Neukölln, mal über die Tellerränder Europas zu blicken.

So flog ich denn am Abend des 13.9.2003 von Frankfurt/Main ab, schüttete mir just außerhalb des bundesrepublikanischen Luftraums aufgrund zittriger Vorfreude einen vollen Becher kühlen Orangensaft in den Schoß, sodass ich die gesamte Flugzeit bis Bombay mit feucht-nassem Oberschenkeln/Schritt/Bauch rumzubringen hatte …

Morgens gegen halb zwei Ortszeit landeten wir am 14. 9. 2003 in Bombay/Mumbai. Im Landeanflug sah man ab und zu einige beleuchtete Fenster und die gelb schimmernden Straßenlaternen. Aus einigen hundert Metern Höhe wirkt die Stadt ruhig, beinahe wie ausgestorben. Kaum ein Auto ist unterwegs.

Nachdem ich den Einreise-Schalter hinter mir gelassen habe, ging es mit Rucksack und Handgepäck einen mir endlos erscheinenden Gang entlang. Von den Decken leuchten Neonröhren und verbreiten Bürocharme. In den Warteräumen, die von dem kahlen Gang abgehen, schlafen unzählige Menschen auf Bänken, auf dem Boden, gegen die Wand gelehnt. Andere dämmern nur, auf ihrem Koffer sitzend, vor sich hin und warten, bis ihr Flug aufgerufen wird.
Der Weg führt vorbei an kleinen Buden, aus denen heraus junge Männer mit müden Augen, jedoch mit wacher Stimme einem die „besten Hotels“ und die „günstigsten Taxis“ der Stadt vermitteln wollen.
Kurz darauf folgt der Moment, der sich mir ins Gehirn eingemeisselt hat und der mit dieser ersten Indien-Reise immer assoziiert werden wird. Am Ausgang des Flughafengebäudes stehen an einem Zaun Empfänger, die Schilder mit Namen hochhalten. Ich habe nur kurz Zeit, sie wahrzunehmen, denn etwas schlägt mir mit voller Wucht auf den ganzen Körper und mein Gesicht: Mein gesamter Körper und meine Kleidung sind feucht – es ist die indische, tropisch-feucht-warme Hitze, die ich in den nächsten Wochen zu lieben lernen werde! Den Brillen-trägern, die mit mir aus dem klimatisierten Flughafen gekommen sind, beschlagen die Gläser. Ich bin in der größten und schönsten Sauna gelandet, die ich bisher erlebt habe!

  1. Mumbai

Die Fahrt durch das nächtliche Mumbai zum YMCA-Hotel in der YMCA-Road dauert eine gute halbe Stunde. Unterwegs erhasche ich aufgrund der Dunkelheit nur kurze Bilder, Bildausschnitte. Die Stadt schläft. Jede Stadt fällt in der Nacht in eine Art Schlaf, ruht sich von dem Trubel des Tages aus, atmet tief durch und wird ganz ruhig. Die Menschen, die in ihr leben, tun es ihr gleich. Die Taxifahrer liegen auf den Motorhauben ihrer Fahrzeuge und schlafen. Ein paar weisse Berge, die sich beim zweiten Hingucken als die berühmten indischen Kühe entpuppen, lehnen gegen eine Mauer und lassen sich ihr Abendessen nocheinmal auf der Zunge zergehen. Die Bäume wiegen sich in einer seichten, warmen Brise. Der Fahrtwind bläst mir den Schlaf aus den Augen und ich bin nach zwölf Flugstunden, von denen ich rund die Hälfte in einer nassen Hose verbrachte, so wach und aufmerksam wie schon lange nicht mehr. Wilde Hunde streunen in kleinen Rudeln durch die Straßen, andere liegen müde hechelnd am Straßenrand und gucken zu mir herüber. Beinahe kommt es mir so vor, als würden sie mir frech grinsend die Zunge herausstrecken.
Auf einem breiten, rot-weiss bemalten Mittelstreifen wurden dunkle Erde und bunte Stoffreste zuerst vermischt und dann verteilt. Wozu das? Zum Trocknen…? — Nein…! Aus der vermeintlichen dunklen Erde reckt sich ein Arm heraus. Woanders hebt sich gleichzeitg ein Kopf. Mir stockt der Atem, denn soetwas habe ich noch nicht gesehen, selbst im deutschen Fernsehprogramm zur Weihnachts- ergo Spendenzeit nicht: Das sind alles lebende Menschen, die sich dort dicht an dicht drängeln, um etwas Ruhe zu finden. Der Mittelstreifen ist ihr Bett! Für mindestens fünfzig Menschen jeden Alters, vielleicht sind es auch doppelt soviele, ist diese Verkehrsinsel inmitten einer Hauptstraße das Nachtlager! Als ich wenig später mein eigenes vorfinde – es ist ein hartes Bett mit noch härterem Kissen und einer filzigen Decke – überrennt mich jedoch meine Müdigkeit. Ich werfe nur meine Sachen auf den abgestellten Rucksack und lasse mich von den Geräuschen der Nacht in einen unruhigen Schlaf wiegen.

Ganz gegen meine Natur wachte ich viel zu früh auf. Noch während das Bewusstsein am Hinterkopf anditschte und sanft wieder in Richtung Stirn schwebte, wurde mir, noch bei geschlossenen Augen, gewahr, dass dies nicht mein Zimmer und das da draußen nicht meine Stadt war. Im nächsten Moment war jede Müdigkeit verflogen, mit einem Satz stand ich auf und stellte mich ans Fenster. Das Fenster schloss nicht richtig, es war aus dünnem braunen Holz, und das Holz war mit den Jahren, die ihr kennt, verzogen, sodass ein feiner warmer Windzug der feuchten Luft mich am Hals streichelte. Draußen war die Nacht gerade dabei, sich auszudünnen. Es würde noch eine halbe Stunde dauern, dann wäre die Sonne unweigerlich da, und mit ihr würde der Trubel, den ich aus dem Fernsehen kannte, in die Straßen einziehen. Noch war alles ruhig. Die morgendliche blaue Stunde hielt Hof. Frühnebel hing unten rechts über der T-Kreuzung, wo ein paar Taxifahrer auf den Motorhauben ihrer Fahrzeuge schliefen. Schwarze Flughunde zogen gelassen ihre Runden über dem Wipfel des riesigen Baums direkt gegenüber meines Zimmerfensters, doch viele ihrer ArtgenossenInnen hatten die Nachschicht schon beendet und hingen kopfüber zusammengefaltet an den Ästen. So zu schlafen, das wär nichts für mich… Ich blickte nach links und sah ein menschenleeres, grob dreieeckiges Feld von der Größe eines Fußballfeldes. Auf der rotbraunen Erde hatten sich beträchtliche Pfützen gesammelt, was nicht weiter verwundert, schließlich war es Anfang September, Monsunzeit. Trotz Müdigkeit und rund fünfzig Metern Entfernung konnte ich über den stehenden Gewässern Schwärme von schwirrenden Mosquitos erkennen. Sie alle hatten Malaria. Aber sagte ich menschenleer? Nun, ich war wohl doch noch nicht ganz wach, denn natürlich lagen da unter kleineren Bäumen, auf einer niedrigen Mauer, Menschen, vor allem Männer, einerollt in dünne Tücher.
Mumbai hat geschätzte 15 Millionen Einwohner und eine Fläche von ungefähr 440 Quadratkilometern. Als ich Indien das erste Mal bei Tageslicht betrat – hier in Mumbai, am 14. September 2003, auf der YMCA-Road, vor dem YMCA-International House, um 9.17 Uhr – schiss mir zunächst etwas auf die rechte Schulter. Eine Krähe, die über mir im Baume saß, krähte ihrer Ladung, die genau den Gurt meiner Tragetasche traf und keinen anderen Quadratzentimeter dieser Stadt, hämisch hinterher. Vielleicht war es auch eine Entschuldigung, die ich nicht verstand? Eine Warnung? Ein Willkommensgruß? Nachtigall, ick hör dir trapsen, dachte ich mir und warf dem Paradiesvogel da oben einen verzeihenden Blick zu. Das Krähenmaleur war schnell beseitigt, mich interessierten jetzt ganz andere Dinge.

Ich ging zu einem Telefonshop auf der anderen Straßenseite, der insgesamt kaum größer war als eine europäische Telefonzelle. Dieser Laden, eine Bretterbude, war also vielleicht zwei Meter lang und einen Meter tief und bestand im wesentlichen aus zwei Türen. Hinter der rechten Tür stand eine Kasse auf einem Tresen. Einige lose Kabel und zerflossene Bonbons lagen ihr zu Füßen. Hinter der linken Tür befand sich ein Tastentelefon. Kasse und Telefon sind miteinander gekoppelt, und beide Räume wurden durch eine dünne Wand mit noch dünnerer Glasscheibe darin getrennt. Der weißhaarige Besitzer tapste O-beinig vor mir zur Tür der eigentlichen Telefonzelle und bat mich mit einer feinen Geste hinein. Er ging mir bis zur Brust und guckte mich mit klaren, freundlichen Augen an, als ich ihm erzählte, wohin ich telefonieren wollte: „Our lines have a good quality, Sir!”. Ich sage ihm, er müsse mich „Sir“ nennen. Er nickte und sagte: „Ok, Sir“, und wir grinsten uns an. Dann zwängte er sich hinter seinen Tresen, friemelte kurz an einem Kabel herum, und ich hörte ein Freizeichen. Ich rief meine Eltern an und sprach ihnen auf den Anrufbeantworter, dass ich gut gelandet bin, dass alles in Ordnung sei und dass ich mich hier sauwohl fühle. Ein kleines rotes Display in der Wand zeigte mir den Preis an. Mir ronn der Schweiß aus allen Poren

Dann stieg ich in ein Taxi zum Crawford-Markt. Nachdem der lässige Fahrer die recht ruhige YMCA-Road verlassen hatte, ging der Spaß los. In jedem Reisebericht wird wohl etwas über den chaotischen Straßenverkehr in Indien geschrieben, weil es wohl das erste ist, womit sich ein Reisender auseinanderzusetzen hat. Wollknäuel, Ameisenhaufen, Wirrwarr, Chaos – mir gefällt Ameisenhaufen noch am besten, denn Ameisenhaufen haben System! So auch der hiesige Verkehr. Kurz gesagt: Es ist der Wahnsinn. Ersteinmal. Der durchaus turbulente Verkehr südeuropäischer Länder könnte sich hier unzählige Nachhilfestunden geben lassen, wie man es also richtig macht. Wohin man sieht, fahren hier in Mumbai die schwarz-gelben Taxis, deren Fahrer ungelogen jeden freien Zentimeter nach vorn und zur Seite nutzen. Die Autos stehen und fahren Stoßstange an Stoßstange, teilweise passt kein Finger mehr dazwischen. Wenn man es nicht selbst erlebt hat, glaubt man es nicht. Ich erlebte es also zum ersten Mal und hielt so einige Male den Atem an. Zwischendrin tummelt sich eine Unzahl von kecken Fahrrad- und Mopedfahrern, und alle scheinen nur einer erkennbaren Verkehrsregel folgen: Der Verkehr hat von A nach B vorwärts zu rollen. Tausende andere wollen auch von A nach B, und zwar im exakt gleichen Augenblick an genau dieser Stelle. Es wird erst gehupt und dann Gas gegeben – wer nicht hupt, existiert nicht. Von links und rechts kreuzen Fußgänger die Fahrtrichtung. Gebremst wird erst im letzten Moment, wenn also alles Hupen seinen Zweck verfehlt hat. Statt nach rechts zu blinken benutzt man hier im Linksverkehr die rechte Hand, die ansonsten standardmäßig aus dem offenen Fenster baumelt. Die Fahrzeuge fahren mit vielleicht zwei Zentimetern Abstand an Passanten vorbei und beide Seiten finden das so normal wie das Luftholen. Wenn es gar nicht mehr voran geht, wird auf der Gegenfahrbahn auch schon mal eine neue Spur eröffnet. Genau das tat mein Fahrer. – Stand mir eigentlich auf der Stirn geschrieben, dass ich gerademal neun Stunden im Land war? – Wir preschten ein paar hundert Meter an entgegenkommenden Fahrzeugen vorbei, obwohl gar kein Platz für uns vorgesehen war. Links von uns drängelte sich in korrekter Fahrtrichtung eine träge Karawane aus Menschen und motorisiertem Blech vorwärts. Vor uns wich hupend der Gegenverkehr aus, weiß ich, wohin! Mit einem Mal materialisierte sich ein überfüllter Linienbus vor uns und steuerte auf uns zu, als liefe er auf Schienen. Ich empfand es als Hohn, dass der Busfahrer seine durch Druckluft betriebene Zweitonhupe erklingen ließ, als hätte gerade er es nötig, noch auf sein riesiges Gefährt hinzuweisen. Gerade, als ich den Mund öffnen wollte, um Luft zu holen für den finalen Erlösungsschrei, öffnet sich in der Fahrzeugmasse links von uns zufällig eine Lücke, in die der Fahrer uns drei – sein Taxi, sich und mich – hineinrettete. Während der gesamten Aktion war er die Ruhe selbst, zuckte mit keiner Muskelfaser unkontrolliert. Seit ich diese Fahrweise erlebte und ein erstes Mal überlebt hatte, kann ich gut dabei abschalten. Ich mache mir ganz einfach keine Gedanken mehr – die Leute kennen ihren Straßenverkehr einfach, also brauche ich gar nicht erst zu versuchen, ein offensichtlich gut funktionierendes System zu hinterfragen. Ich frage also auch nicht, warum die die Ampeln augeschaltet sind, oder warum man sie weitegehend ignoriert, wenn man auf eine funktionierende trifft. Ich vertraute ganz einfach meinem ersten Taxifahrer, wie auch allen späteren. Kleine und große Tiere, von Hand gezogene Karren, Radfahrer, Fußgänger, Körbe, Pakete – alles zieht an uns vorbei, der Kutscher kennt den Weg. Er fuhr nicht zum ersten Mal einen Touristen zu dem Markt, der in jedem Reiseführer aufgelistet ist.

Die zweite Lektion des indisches Straßenverkehr lernte ich noch in derselben Stunde: Die Fahrzeuge kommen aus der ‚falschen’ Richtung. Als ich vor dem Überqueren einer recht wenig befahrenen Straße brav und gewohnheitsmäßig nach links schaute, bewegten sich die nächsten Fahrzeuge erst in etwa fünfzig sicheren Metern Entfernung. Ich sollte besser sagen: es sind dort einfach nur irgendwelche Fahrzeuge zu sehen, eine Richtung ist in dem kurzen Moment nicht auszumachen. Ich setzte also den ersten Schritt vom Bordstein hinab, als sich mir von rechts der warnende Schrei einer Hupe in die Gehörgänge drückte. Ein Augenzwinkern später rollte ein Transporter mit hoher Geschwindigkeit buchstäblich vor meiner Nase entlang – ich kann in der Schrecksekunde sogar an einer heraushängenden Hand eine Narbe erkennen. Ups, `Tschuldigung, alles klar, Linksverkehr!